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Haarsträubend!

Es kursieren da draußen haarsträubende Aussagen über das Enneagramm!

Was mich besonders frustriert ist, dass viele Teilaussagen per se nicht falsch sind, doch die Schlussfolgerungen sind häufig haarsträubend, nicht haltbar und irreführend.

Ein Wochenend-Workshop oder die Lektüre eines Buches reicht nicht aus, um dieses komplexe Modell in seiner Gänze zu verstehen.

Anfänglich habe ich auch gedacht, den heiligen Gral gefunden zu haben, nur weil ich plötzlich mich und meine ganze Umwelt in einem anderen Licht sehen konnte. Der Einblick ins Enneagramm, seine Klarheit und Logik, hatte eine fast berauschende Wirkung auf mich.

Nach dem Rausch kommt die Ernüchterung. Es gab eine Phase, da wollte ich nichts mehr davon wissen, nahm mir eine Auszeit, um dann doch wieder einzusteigen. Wir können nicht mehr NICHT wissen, zurückgehen, klappt nicht, daher birgt dieses Wissen durchaus Fluch und Segen.

Ich verstehe jeden, der sich auf diese Arbeit nicht tiefer einlassen will.

Aber Halbwahrheiten zu verbreiten, geht eben auch nicht!

Bisher habe ich versucht meine Irritation über den Sinn- und Unsinn, der über das Enneagramm verbreitet wird oder wofür es alles herhalten soll, wegzulächeln. Was, wer mich besser kennt, mir nicht gelingt! Ich bin ein miserabler Pokerspieler.

Ich muss meinem Frust und Ärger einfach mal Luft verschaffen. Was ich hiermit tue.

Der ideale Partner

Nein, das Enneagramm gibt kein “Brief & Siegel” für die lebenslange Ehe. Menschen sind kompliziert, Partnerschaften ebenso.

Wer das Enneagramm als Match- oder Nicht-Match für die eigene Partnersuche hernimmt, wird die Erfahrung machen, dass er mit dem Enneagramm ebenso wenig vor Reibungen, Missverständnissen oder gar Trennung gefeit ist wie ohne.

Die kursierenden Enneagramm Partnerschaftstests haben die gleiche Aussagekraft, wie mein Tageshoroskop, wenn da steht, dass der Jackpot genau heute auf mich wartet. Das Schlimme daran ist, dass die Aussage an sich ja keine Lüge ist, der Jackpot sitzt da und “wartet” tatsächlich. Ja, er wartet AUCH auf mich, aber auf Millionen von anderen Menschen wartet er eben auch.

Die perfekte Stellenbesetzung

Vor einiger Zeit fiel mir ein Buch eines sehr bekannten und renommierten Verlages in die Hände. Der Ratgeber verspricht Führungskräften in Bildungseinrichtungen eine optimale Personalpolitik und Stellenbesetzung. Der richtige Enneagrammtyp für jede Position!

Wie weit kann ich Menschen noch auf ihre Musterbeschreibung reduzieren und wie sehr kann ich dem Enneagramm eigentlich noch schaden, wenn ich die Hilfsbereitschaft des Musters ZWEI, als ideale Voraussetzung für die Zuarbeit und Vorbereitung von Aufgaben, hernehme. Abgesehen davon, dass das gerade mit diesem Muster sehr schnell nach Hinten losgehen kann, aber das ist ein anderes Thema.

Ja, es ist richtig, dass in helfenden oder sozialen Berufen überdurchschnittlich viele Menschen des Musters ZWEI zu finden sind. Was aber nicht bedeutet, dass genau diese Menschen die ideale Besetzung sind, oder Menschen eines anderen Musters nicht auch einen super Job an der Stelle machen.

Den Typus seiner Mitarbeiters zu kennen, kann aus vielen Gründen hilfreich sein.

Voraussetzung, das als “hilfreich” überhaupt zu empfinden, ist aber, dass erst einmal die Führungskraft selbst durch den Prozess der eigenen Musterfindung gegangen ist. Stellenausschreibungen mit Enneagrammtypen zu besetzten ist kein Garant den besten Mitarbeiter für die Position gefunden zu haben oder ein plötzlich ein tolles Team zu haben.

Und dann gibt es da noch andere Schauplätze, die mir die Sprache verschlagen ...

Das Enneagramm als Erklärung, welcher Enneagrammtyp, wie mit Geld umgehen sollte, um zu Reichtum zu gelangen. Das ist so tragfähig wie mein morgendlicher Kaffeesatz.

Oder Psychologiestudenten ein Referat über das Enneagramm abhalten zu lassen, zu benoten und zu behaupten, diese Auseinandersetzung mit dem Enneagramm hätte eine positive Wirkung auf ihre Persönlichkeitsentwicklung, ist, wie … da fehlen mir aus vielerlei Gründen schlicht die Worte!

Halbwissen als Allwissen zu verkaufen, schadet immer, nicht nur dem Enneagramm.

Halbwissen wissentlich zu verkaufen ist Missbrauch!

Halbwissen unwissentlich zu verbreiten ist Ignoranz!

Das Enneagramm, wie jedes Modell, kann ein nützliches Werkzeug sein, um achtsamer miteinander umzugehen, die Probleme, die unvermeidlich auftauchen, schneller zu erfassen und zu lösen.

Ja, es ist es ein Hilfsmittel, aber auf keinen Fall ein Garant, denn es nimmt uns die Selbstreflexion, das Loslassen alter Glaubenssätze, die Arbeit an uns selbst und den Schmerz einer gewissen Desillusionierung nicht ab. Weder in der Partnerschaft, noch am Arbeitsplatz und schon gar nicht, was unsere Finanzen angeht.

Wir können lernen, die Anderheit des Anderes zu akzeptieren und zu respektieren.

Wir können u.U. unsere eigene Meinung ab und zu mal nicht ins Licht der absoluten Wahrheit stellen. Und schaffen es vielleicht an der einen oder anderen Stelle kompromisbereit(ER) zu sein.

Das klingt vielleicht nicht so berauschend, wie manch andere Versprechungen. Würden wir aber einfach damit mal ernsthaft anfangen, wäre die Welt schon ein wesentlich friedlicherer Ort!

Wer wachsen, sich verändern und entwickeln will, der findet im Enneagramm einen zuverlässigen Begleiter, ein solides Werkzeug, aber es nimmt keinem Menschen den eigentlichen Lern- und Transformationsprozess ab. An dieser Stelle muss man seinen Rausch ausgeschlafen haben, denn innere Arbeit funktioniert nur, wenn man nüchtern ist.